Ratgeber
So wichtig ist Musik für die kindliche Entwicklung
Beate Dapper
Lilli quietscht vergnügt, wenn ihre Mama schnipsend und singend die Windeln wechselt
und dabei kleine lustige Bauchpupser einbaut. Der dreijährige Tim horcht genau hin, egal
ob er die Polizeisirene, verschiedenen Vogelstimmen im Wald oder Lieder, Rhythmus- und
Silbensingspiele hört, die er mit seinem Vater in einer Familienbildungsstätte lernt. Und
die sechsjährige Kaya kennt schon einige Lieder und weiß aus der Musikalischen
Früherziehung, wie sie mit Trommeln, Rasseln und Triangeln eine Gewitter-Regen-Sonnen-
Geschichte nachmalt.
Bei Ronny (4) ist das anders. Er erlebt oft Tage voller unliebsamer Töne. Bei Streitigkeiten
zwischen Erwachsenen hält er sich die Ohren zu. Er schaut gern Bilderbücher an, aber
niemand erklärt ihm, mit welchen Wörtern er das Gesehene wiedergeben kann. Und die
wenigen Wörter, die er kennt, spricht er monoton und laut.
Musik zwischen Nähe und Freiheit
Der Schlüssel jeder Begleitung von Kindern ins Erwachsenenleben ist zugewandte,
liebevolle Aufmerksamkeit und das Bewusstsein, dass Sie eine kleine Persönlichkeit mit
individuellen Bedürfnissen, Talenten und einer eigenen Zukunft vor sich haben.
Gemeinsames Singen verbindet, kleine Fingerspiele schaffen Nähe und das Zusammenspiel
mit Rhythmusinstrumenten bringt Sie in Einklang mit Ihrem Kind. Eröffnen Sie ihm von
Anfang an ein großes Spektrum an Musik, Klängen und Geräuschen, denn so ermöglichen
Sie ihm eine Basis, differenziert mit seiner Umwelt umzugehen und in Resonanz mit dem
zu treten, was zu ihm passt.
Schließlich kann es einen eigenen Geschmack entwickeln und entscheiden, ob es lieber
diese oder jene Musik hört, zwitschernde Vögel oder Motorengeräusche, ein klassisches
Konzert oder den aktuellen Popsong. – Nur lassen Sie sich bloß nicht von Außenstehenden
den Druck auferlegen, Sie würden Ihr Kind verdummen lassen, wenn Sie es nicht in den
Genuss Elementarer Musikerziehung bringen. Wir kommen nämlich so oder so an der Musik
nicht vorbei – ob als Hörer oder Macher.
Musik, die gefällt, zählt!
Musik ist ein gutes Mittel, um Emotionen zu entfachen (als Macher) und zu erleben (als
Hörer). So ist es nicht verwunderlich, dass Musik, die uns gefällt, zum Beispiel bei Ängsten
und Stress nachweislich wirkt. Ist der Verarbeitungsprozess im limbischen System gestört,
drehen wir uns im Kreis und wissen nicht mehr weiter. Musik kann die Nervenbahnen
wieder frei räumen und sogar neue Wege zeigen.
Musik, die uns gefällt, die berührt oder in die Beine geht führt dazu, dass unser Gehirn
die heiß geliebten Endorphine ausschüttet und für ein Glücksgefühl sorgt. Die Amygdala,
die Verarbeitungsstelle für Emotionen, analysiert das Ganze und speichert die mit dieser
Erfahrung zusammenhängenden Informationen und Emotionen im Langzeitgedächtnis ab.
Schon Babys "musizieren"
In diesen wichtigen Jahren (neben den 80 folgenden J) bereiten Sie einen Boden für Ihr
Kind, auf dem es den vielen kleinen und großen Herausforderungen des Lebens begegnen
kann. Ob dieser Boden aus unbeständigem Sandstein und polterndem Geröll besteht, ob er
ein fruchtbarer Untergrund für die späteren Bedürfnisse und Talente Ihres Kindes wird
oder ob er überfrachtet mit Blumen, Gemüse und Weiterem aus Ihren (!) Vorstellungen
wird? Das liegt ganz bei Ihnen. Denn gerade in diesen jungen Jahren haben Babys und
Kleinkinder nicht nur ein erstaunliches Wahrnehmungsvermögen, sondern auch eine
Kombinationsfähigkeit, auf die das Verhalten in künftigen Lebenssituationen aufbaut.
Schon im Mutterleib und in den ersten Wochen können Babys Tonhöhen, Rhythmen, Klänge
und Melodieverläufe unterscheiden und einordnen. Ihre Hörfähigkeit ist immerhin schon
im Mutterleib nach wenigen Monaten weitgehend abgeschlossen, entwickelt sich jedoch
durch die verschiedensten Hörerlebnisse gerade in den ersten drei Lebensjahren
kontinuierlich weiter. In dieser sensiblen Phase werden diese Hörerlebnisse auch gedeutet
und bewertet. Das Vorsingen und wichtiger noch das gemeinsame Singen und Musik
machen in der Familie, in Gruppen oder in Eltern-Kind-Kursen haben prägende Wirkung für
das spätere Leben der Kinder.
"Negative Musik", bedrohliche Stimmen, Geräusche und Lärm belasten
Babys erkennen auf natürliche Weise die Stimmen der Mutter und des Vaters sowie Musik,
Klang und Geräusch alltäglicher wie auch besonderer Situationen. – So können zum
Beispiel wiederholt streitbeladene Beziehungen zu Angehörigen und Freunden durchaus
ein Aspekt für Ablehnung durch das Baby sein, denn es nahm im Mutterleib nicht nur die
Stimmen wahr, sondern etwa auch einen erhöhten Blutdruck der Mutter, der auch dem
Baby Stress bescherte. Erst mit Eintritt ins Schulalter haben die meisten Kinder für sich
herausgefunden, wie sie welche Hörinformationen und allen Zusammenhängen „mit sich
selbst vereinbaren können“. Ein wichtige Stufe der Identitätsbildung ist somit erfolgt.
„Musizieren“ sie mit Ihrem Baby und Kleinkind, sooft es geht: Sprechen, lachen, singen,
Grummelsituationen gut ausgehen lassen und vieles mehr. All das, was eine gesunde
Verknüpfung von Hörbarem, Sichtbarem, Bewegung und Ruhephasen bietet, schafft einen
Boden, den Ihr Kind schließlich in der wichtigen Kombination mit sich SELBST bepflanzen
kann.
Und später? Musikangebote – ein erster Ansatz
Wenn Ihr Kind in die Kita kommt, werden Sie erfahren, dass die Musik Bestandteil aller
Bildungs- bzw. Orientierungspläne ist. Aber es gibt darüber hinaus auch vielfältige
Musikangebote für Babys (mit Eltern) bis zum Schulalter. Musikkindergärten,
verschiedenste Initiativen bis hin zur Musikalischen Früherziehung (MFE) bzw.
Elementaren Musikerziehung (EMP) bereichern den Markt. Universitäten schreiben
Fortbildungskonzepte für ErzieherInnen. Stiftungen bemühen sich um den „Wert der
Musik“ und unzählige weitere Möglichkeiten bieten zertifizierte Weiterbildungen. – Da
verlieren viele Eltern, die das Passende für ihr Kind suchen, schnell den Überblick. Gehen
Sie einfach in die nächste öffentliche oder private Musikschule, Familienbildungsstätte,
kirchliche oder andere Bildungseinrichtungen und erkundigen Sie sich vor Ort.
Lassen Sie sich von der Vielfalt der Unterrichtskonzepte nicht verunsichern. Am Ende
bieten sie alle das Singen, Hören, Rhythmusspiel, Tanzen und Bewegen, szenische
Spielformen, das Ausprobieren verschiedener Instrumente im sozialen Kontext einer
Gruppe an.
Musik, weil sie zu unserer Natur gehört
Seien Sie vorsichtig, wenn Sie auf Versprechen treffen, die den Wert der Musik in allem
Möglichen sehen, aber nicht in der Musik selbst (Musik macht intelligent, Musik fördert das
Sprachvermögen, Musik lernt Ihr Kind schneller Lesen, Schreiben, Rechnen …). Dass wir
uns wohlfühlen und Spaß haben dürfen, gehört nämlich oft nicht unbedingt zum
Leistungsdenken in unserer Gesellschaft und treibt zweifellos schon in Kindergärten und
Grundschulen fragwürdige Blüten.
Natürlich fördert die Beschäftigung mit Musik eine gute Sprachkompetenz. Und klar, dass
Bewegung zur Musik eine gute grobmotorische Förderung ist. Und sicher sind Fingerspiele
für feinmotorische Abläufe durchaus positiv. Aber das tun Vorlesen, Fußball und Malen
auch. In unserer Gesellschaft unterscheiden wir oft „nur noch“ zwischen Wissen=Realität
und Emotion=Irrationalität. Mit Pisa & Co, deren Ergebnisse mittlerweile auch
Auswirkungen auf Vorschule und Kindergarten haben, pressen wir Kinder immer mehr in
die reine Wissenserziehung.
Entscheidend: Ihr Kind fühlt sich beim Musizieren in der Gruppe wohl
Behalten Sie den Blick auf Ihr Kind gerichtet statt auf all die Fachrichtungen,
Fördermöglichkeiten und wissenschaftlichen Erkenntnisse. Für Kurse ohne Eltern (ab ca. 3
Jahre) gibt es - neben ein paar kleinen Wichtigkeiten wie …
•
die Gruppengröße (höchstens 8-10),
•
die Raumbeschaffenheit,
•
ausreichende und vielfältige Möglichkeiten des Instrumentalspiels
zum Ausprobieren,
•
eine gute Kommunikation zwischen Lehrkraft und Eltern,
•
Tipps und Material zum Weiterspielen zu Hause …
•
eine inhaltliche Planung der Stunden, die Sie sich ansehen können bzw.
•
ein Lehrwerk (z. B. Musikgarten, Murmel, Musikfantasie etc.),
das Sie „begleiten“ können.
… nur einen Wert, der für Sie ausschlaggebend sein sollte: Das Wohlgefühl Ihres Kindes in
der Gruppe.
Bildung mit und durch Musik umfasst die ganze Person
In der Regel wird Ihr Kind schon durch ein natürliches und vielfältiges Angebot ein offenes
Verhältnis zu verschiedener Musik finden, Ausdrucksmöglichkeiten des Körpers erproben,
sprachliche Elemente differenziert erleben, Atmung und Körperhaltung bewusst erleben
und in Sprache, Bewegung und Gesang umsetzen, Bewusstsein für verschiedene
Klangfarben, Tonstärken und Tonhöhen fördern sowie diese Tonelemente differenzieren
können, den Unterschied zwischen Musikmachen (Aktivität) und Musikhören (Passivität)
erleben.
Darüber hinaus wird Ihr Kind bewusster in der Wahrnehmung eigener und fremder
Emotionen, die Sinne werden ganzheitlich angesprochen. Die grob- und feinmotorische
Entwicklung wird unterstützt. Das Bewusstsein wird durch die Musik, gemeinsames Singen,
Tanzen, Spielen, Hören ... und durch differenziertes „aufeinander achten“, in den
verschiedenen sozialen Entwicklungsprozessen gefördert.
Ein Wort zum Schluss
Schön ist es, wenn Ihr Kind durch die Berührung und Beschäftigung mit der Musik die Musik
lieben gelernt hat. Und vielleicht hat es sogar gelernt, die erfahrenen musikalischen
Inhalte in einen sozialen Zusammenhang zu bringen und zu nutzen. Und sollte aus ihm
selbst motiviert der Wunsch entstehen, selbst ein Musikinstrument erlernen zu wollen, ist
das wunderbar … aber nur dann!
Informationen im Internet
Informationen zu Elementaren Bildungsbereichen (inkl. der Bildungspläne in Kitas):
www.bildungsserver.de/Elementarbildung-Bildung-und-Erziehung-in-
Kindertagesbetreuung-1658.html
Eine gute Übersicht über (exemplarische) Angebotspaletten im Bereich Musik:
www.bildungsserver.de/Musik-Rhythmik-Tanz-Elementarbildung--2390.html
Im „Musikatlas“ (www.miz.org/musikatlas.html) finden Sie über 900 öffentliche
Musikschulen in ganz Deutschland. Bestimmt ist die in Ihrer Nähe auch dabei.
Die Mitgliedsschulen im Bundesverband Deutscher Privatschulen e. V. finden Sie hier:
www.bdpm-musikschulverband.de/aufgaben/mitglieder/
Wer sich ein bisschen tiefer in die Möglichkeiten der vorschulischen Musikerziehung
einsteigen möchte, dem sei der hervorragende Überblick von Prof. Michael Dartsch
empfohlen:
www.miz.org/static_de/themenportale/einfuehrungstexte_pdf/01_BildungAusbildung/dar
tsch_vorschulische_musikerziehung.pdf
Beate Dapper, langjährige Redakteurin, Autorin und Herausgeberin in unterschiedlichen
Medienbereichen. Mit ihrer praktischen Erfahrung als musikpädagogische Kraft hat sie
sich auf Bildungs- und Sachmedien mit den Zielgruppen Kindergarten, Grundschule und
Kinderzimmer spezialisiert.
Hier können Sie Beate Dapper Ihre persönlichen Fragen stellen, etwa zu Inhalten eines
Musikangebotes in Ihrer Kita oder auch in außerschulischen Lernorten, Fragen zu
didaktischen und methodischen Vorgehensweisen in einer Gruppe oder auch Fragen im
Umgang mit Musik in Bezug zu Ihrem Kind allgemein.
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